Walter Benjamin – Eine Kindheit um Neunzehnhundert
Berliner Erinnerungen mal anders: In Walter Benjamins Kindheitserinnerungen geht es um alte Tanten, Fieberträume und nassglänzende Fischotter.
Einer der wichtigsten Repräsentanten deutsch-jüdischer Kultur des 20. Jahrhunderts, Walter Benjamin, verbringt seine Kindheit überwiegend in Berlin-Charlottenburg. Seine ‚Berliner Kindheit um 1900‘, ein schmales Büchlein aus 30 kurzen Prosastücken, gilt als eine der eindrücklichsten deutschsprachigen Autobiografien überhaupt. Benjamin erarbeitete sie im Pariser Exil von 1932 bis 1938. Zu seinen Lebzeiten erschienen jedoch nur einige Auszüge seiner Erinnerungen in der Frankfurter Zeitung. Eine erste Buchausgabe stellte sein enger Freund Theodor Adorno 1950 aus verschiedenen Manuskripten und Typoskripten zusammen. Doch erst 1981 wurde in der Bibliothèque Nationale in Paris ein Typoskript der 1938 entstandenen Fassung letzter Hand mit Vorgabe der Anordnung der einzelnen Prosa-Erinnerungsstücke wieder gefunden, die Benjamin dort hatte verstecken lassen.
Über die äußeren Lebensumstände Benjamins und das alltägliche Leben in Berlin zur Kaiserzeit erfährt man in der ‚Berliner Kindheit‘ indes tatsächlich wenig. Schließlich geht es Benjamin vorranging um die sprachliche Verbildlichung des Erinnerungsprozesses – und der schert sich mitunter nicht um historische Ereignisse und äußere Umstände: Wahrhaftiger erscheint dem Autoren zum Beispiel die kindliche Faszination des ewigen Wartens am Fischotterbecken im Zoologischen Garten (‚Der Fischotter‘) oder seine entrückte Erinnerung an die ältliche Tante in ihrer Erkerwohung Stieglitzer- Ecke Genthinerstrasse, die wie eine Fee auf ihrem Lehnstühl sitzt (‚Stieglitzer Ecke Genthiner‘).
Benjamin studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Germanistik; sein umfangreiches Oeuvre umfasst Studien und Aufsätze zum Judentum, zur Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts, zur deutschen Romantik, zum damals neuen Medium der Fotographie, daneben auch Rundfunkbeiträge sowie Übersetzungen französische Klassiker. Methodisch wie inhaltlich wenig homogen kreisen seine Schriften dabei immer auch um sein Lebensthema: Die Hinwendung zum Konkreten und die Opposition gegen die Verdinglichung der Sprache und schematisches Denken.
In Berlin hält es den talentierten jungen Mann übrigens nicht lange; schon früh verlässt er die Stadt und beginnt ein Philosophiestudium in Freiburg. Es ist der Anfang eines rastlosen Lebens: Nach diversen Lern-, Lehr- und Lebensstationen in Bern, Frankfurt a.M., Moskau, Ibiza und Paris – dazwischen zeitweise auch wieder in Berlin -, findet Benjamin in den 30er Jahren des politischen Klimas wegen erst recht keine Ruhe und geht im Jahr 1933 ins Exil nach Paris. Im Jahr 1940 sieht er im Grenzort Portbou die Auslieferung an die Deutschen unmittelbar bevorstehen sah und nimmt sich, wahrscheinlich durch Morphin, das Leben.